Diesen Beitrag veröffentlichte ich vor 7 Monaten. Nun bekam ich die Nachricht, dass es meinem Vater gesundheitlich sehr viel schlechter geht und er selbst seine Frau noch selten erkennt. Ich habe diesen Brief heute nochmals gelesen und möchte ihn gerne nochmals veröffentlichen, auch als Trost für mich, denn ich kann ihn leider nicht in Colorado besuchen. Und ich sende hiermit alle meine lieben Gedanken zu ihm und auch zu seiner Frau, die ihn rührend umsorgt.
Liebster Papa,
ich weiß, dass du noch du selbst bist, wir dir aber fremd geworden sind. Du kennst uns noch aus der Vergangenheit, aber heute erkennst du uns nicht mehr.
Ich weiß auch, dass du nun zufrieden in deiner eigenen Welt lebst und meist fröhlich und auf kindliche Weise glücklich bist. Wir sind es die traurig sind. Du vermisst uns nicht, aber wir vermissen den Vater, der du warst.
Deine Kindheit in den Bergen war, deinen Erzählungen nach, eine glückliche Zeit, die in der Jugend aber jäh durch den Krieg endete. Fast noch ein Kind hast du seine Grausamkeit kennengelernt. Du musstest als Soldat kämpfen und bist nur knapp der Kriegsgefangenschaft entronnen. Vieles was du damals erlebst hast, konntest du nie in Worte fassen.
Als junger Ehemann und Vater von drei Kindern musstest du dann deine geliebte Heimat verlassen. Mit nur zwei Rucksäcken mit allem Hab und Gut und den kleinen Kindern war ein Neuanfang schwer. Du hast für uns um ein gutes Leben gekämpft und wir konnten unbeschwert aufwachsen. Du hast uns trotz aller Widrigkeiten so vieles ermöglicht.
Ich hatte eine wundervolle Kindheit und Jugend. Du warst mein Ein und Alles und gabst mir immer Geborgenheit und Sicherheit. Die Schönheit der Natur hast du mir nahe gebracht und den Blick für kleine Schätze geschärft. Wandern und Skifahren in den Bergen waren deine große Leidenschaft, die du an uns weitergegeben hast. Schon mit zwei Jahren stand ich auf Skiern. Ferien in den Bergen mit dir waren immer ein Abenteuer und während unsere Freunde damals meist zu Hause blieben, hast du uns immer diese Reisen möglich gemacht. Zwar waren unsere Quartiere einfach, aber es war trotzdem wundervoll.
Beruflich erfolgreich bist du dann um die ganze Welt gereist und brachtest andere Kulturen und Gäste aus fremden Gefilden in unser Wohnzimmer. Das öffnete unseren Horizont und machte uns weltoffen und tolerant. Mit einem guten Whiskey in der Hand hörtest du gerne Jazzmusik auf der Terrasse und ich saß manchen Abend dort mit dir unter dem Sternenhimmel.
Dein Sohn, unser Bruder und einige Jahre darauf dessen Frau, sind viel zu früh von uns gegangen. Auch dieses Schicksal musstest du ertragen.
Bei all diesen schweren Schicksalsschlägen ist das Vergessen vielleicht auch eine Erlösung.
Es gab Zeiten, da haben wir uns nicht gut verstanden, da war nur Stille zwischen uns. Wir haben beide darunter gelitten, aber es war keine Einigung möglich. Aber als zu so weit weg gezogen bist, entstand langsam wieder Nähe und wir konnten uns verzeihen.
Nun blickst du in Colorado wieder auf deine geliebten Berge und erinnerst dich dadurch hoffentlich täglich vor allem an deine glückliche Tage der Kindheit und Jugendzeit. Die schrecklichen Zeiten sind vermutlich durch die Krankheit in der Vergesslichkeit versunken und du kannst nun in Frieden leben.
Deine kindliche Zufriedenheit mildert unseren Schmerz darüber, dass du dich langsam Schritt für Schritt mehr von uns entfernt hast, und unsere Liebe bleibt trotzdem bestehen.
Foto: Eigentum Sylvia Waldfrau