Erinnerungen

Titelfoto: Familienausflug, meine Mama und wir drei Geschwister

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Auf vielen meiner alten Kinderfotos habe ich einen Wildblumenstrauß in der Hand oder bin gerade beim Blumen pflücken. Oben mit Großvater und meinem Bruder.

Heute fotografiere ich vor allem die Blumen und Pflanzen. Mit meinem Vater war ich früher oft auf Streifzügen in der Natur unterwegs und er machte mich auch auf viele kleinen Wunder aufmerksam. Beim Durchschauen alter Fotos am Muttertag entdeckte ich, dass es später einige sehr ähnliche Aufnahmen mit meiner Tochter gibt. So gibt eine Generation der nächsten ihre Vorlieben weiter.

Mein Vater und ich:P1090021Mein Vater mit meiner Tochter:P1090051

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Onkel Herbert

In fast jeder Familie gibt es sie, die ungewöhnlichen, schrulligen Mitglieder. Bei uns war es Onkel Herbert, der ewige Junggeselle. Er war ein hagerer Mann mit scharfen, wettergegerbten Gesichtszügen. Immer im Anzug mit Schirmmütze, könnte er als Vorbild für Nick Knatterton gedient haben:

Nick-Knatterton

Zusammen mit der Familie seines Bruders, wohnte er in einem alten Schloß in der bayrischen Provinz. Eigentlich war es eher ein burgähnliches Gebäude mit sehr hohen Räumen, alten Kachelöfen, knarrenden Türen und Sälen anstatt Zimmern. Es gibt sogar ein aktuelles Foto davon:

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Wir Kinder liebten die Eingangshalle, denn da hing eine Schaukel, mit der man sich bis zur meterhohen Decke schwingen konnte. Das kitzelte so wunderschön im Bauch. Das Haus war für uns geheimnisvoll. Es wirkte etwas verstaubt und die eher dunklen Räume schienen viele Geschichten erzählen zu können.

Aber nun zu Onkel Herbert. Er trug immer Anzüge mit Knickebockern und die dazu passende Schirmmütze, wie diese drei Herren hier:

knickerbockers

Alles war aus dem selben Stoff geschneidert. In der riesigen Küche stand, neben dem alten großen Schloßofen sein Webstuhl.

Webstuhl

Dort webte er die Stoffe selbst und nähte sich anschließend daraus die Anzüge samt passender Mütze. Die Stoffe hielten ein Leben lang. Etwas steif und hart fanden wir sie, denn wir waren moderne weiche Stoffe gewohnt. Ob er die passenden Kniestrümpfe auch noch strickte weiß ich allerdings nicht. Zutrauen würde ich ihm auch das. Auf jeden Fall waren sie immer farblich passend. Er war also ein Weber und Schneider aber außerdem auch noch ein sehr fleißiger Maler.

In den sehr großen  Räumen hingen alle Wände voll mit altmodischen Ölgemälden, die unser Onkel selbst gemalt hatte. Berg- und Naturmotive waren seine Leidenschaft, ähnlich diesem Gemälde:Franz-van-der-Glas-1878-1964.jpg

Kaum ein Zentimeter Wand war in den Räumen noch zu sehen. Er war ungeheuer produktiv. Auch die Rahmen fertigte er selbst. Meine Schwester hat heute noch ein Gemälde von ihm. Zum Malen fuhr Onkel Herbert mit seinem VW-Käfer in die Berge. Einmal durften wir ein Stück mit ihm fahren. Dies war ein Erlebnis der anderen Art. Man dachte man könne neben dem Käfer herlaufen, so langsam tuckerte er durch die Landschaft. Manch gefährliches Überholmanöver löste er damit aus, aber er fuhr stoisch, unaufgeregt und langsam wie eine Schnecke weiter vor sich hin und erreichte immer sein Ziel. Zeit schien ihm nicht wichtig zu sein. Mit im Gepäck hatte er seinen Skizzenblock und die Staffelei. Außerdem Körbe zum Sammeln. Denn er war ein begnadeter Beeren- und Pilzesammler. Dann saß er einen Teil des Tages vor seiner Staffelei um Entwürfe zu fertigen und danach ging er zum Sammeln. Ohne etwas mitzubringen kam er nie nach Hause und Tante Hildegard, seine Schwägerin, kochte anschließend Kompott aus den Waldbeeren oder trocknete die Steinpilze auf langen Schnüren.

Als Kind fand ich ihn immer etwas unheimlich und unnahbar. Aber wenn ich heute an ihn denke, dann wird mir bewusst, dass er war ein ganz besonderer Mensch mit enormen künstlerischen und handwerklichen Fähigkeiten war. Offensichtlich hat er nie eine Frau gefunden, die seine Eigenheiten liebte oder ergänzte und so blieb er Junggeselle und wurde bestimmt von vielen Menschen als verschrobener Kauz abgestempelt. Ihn schien das aber niemals zu stören. An seine Stimme kann ich mich nicht erinnern, ich vermute deshalb, dass er ein eher schweigsamer Mensch war. Mit uns Kindern konnte er vermutlich damals auch nicht viel anfangen.

Heute allerdings könnte ich seine Art schätzen, würde mich bestimmt sehr gerne mit ihm unterhalten, ihn nach seinen Erinnerungen und Erfahrungen fragen und würde seine vielfältigen Fähigkeiten bewundern.

Liebste Mama

Wir hatten es nicht immer leicht miteinander. Ich ging meine frühen Lebensjahre meist an Papas Hand durch das Leben. Er war mein Ein und Alles. Vielleicht spürte ich auch, dass ich kein Wunschkind war. Geboren in einer Zeit des Aufbruchs und der Unsicherheit wohin die Reise gehen wird, war ich nicht geplant. Du musstest dann ja auch mit drei kleinen Kindern deine Heimat verlassen und das mit wenig im Gepäck. Papa war teilweise nicht anwesend und du hast eine Menge Sorgen alleine tragen müssen.

Nach unserer Aussiedlung und der Ankunft in Oberschwaben hast du dich zum Organisationsgenie entwickelt und trotz dem Wenigen das wir hatten, ging es uns Kindern immer gut. Ich erinnere mich, dass ihr längere Zeit auf Luftmatratzen geschlafen habt, während wir Kinder schon eigene Betten hatten. Du hast dich nie beklagt.

Was hast du nicht alles mit uns unternommen: Rodeln und Schlittschuhlaufen im Winter, sommerliches Baden mit Picknick , Wandern, Basteln und Malen zu jeder Jahreszeit. Du kanntest sehr viele alte Lieder und hast uns damit einen großen Schatz geschenkt. Auf Ausflugsfahrten verkürzten wir uns mit Singen die Zeit und auch zu Hause war Musik unser Begleiter. Nur beim Skifahren hast du gekniffen, das musste uns der Papa, der leidenschaftliche Bergmensch, beibringen. Da bist du oft alleine zu Hause geblieben, hast dich aber nie beschwert.

Dein Erziehungsstil war damals für die 60er Jahre extrem modern. Tolerant und liebevoll hast du uns begleitet und niemals gegängelt. So konnten wir unsere Grenzen selbst herausfinden und eigene Erfahrungen sammeln. Wir sind selbstbewusste und sehr eigenständige Menschen geworden. Wenn Papa allzu streng war, dann warst du der Gegenpol und hast deinen Willen durchgesetzt. Freundinnen beneideten mich, da du niemals Unterschiede zwischen unserem Bruder und uns Mädchen machtest und wir unsere Freunde nach Hause bringen durften. Meine Pubertätssünden und meinem Freiheitsdrang hast du sicherlich schwer ertragen, aber mit Langmut und Geduld überstanden.

Als Ehefrau warst du eher ein Lamm. Papa war in Sachen Ehe sehr altmodisch. Oft haben wir Töchter dir mehr Widerspruchsgeist gewünscht. Für uns hast du gekämpft, für dich selbst hast du es nicht geschafft.  Damals sind wir uns endlich näher gekommen, denn ich, als sehr emanzipierte junge Frau, stieß Papa von seinem hohen Sockel und protestierte gegen seine altmodische Einstellung. Das lief aber meist ins Leere.

Erst nach der Silberhochzeit, als wir alle aus dem Haus waren, hast du die Ehefesseln abgestreift und bist einfach gegangen obwohl Scheidungen in deiner Umgebung noch selten waren.  Später trafst du dann einen Mann der sehr liebevoll alle deine Wünsche erfüllte. Damit warst du uns dann ein großes Vorbild  dafür, dass man selbst im höheren Alter noch den Mut haben soll etwas Neues zu wagen. Leider verstarb dein zweiter Mann nach wenigen Jahren und du bist in eine Depression gefallen.

Damals entschied ich mich wieder in deine Nähe nach Oberschwaben zu ziehen. Die Liebe zu deinen Enkeln hat dich wieder aufgebaut. Du warst eine herzliche und wunderbare Oma und mir, als Alleinerziehende, eine große Stütze. Mit meiner Tochter verband dich eine sehr innige Seelenverwandtschaft. Da warst du oft ein Puffer, wenn ich mit ihr aneinander geriet. Du bist viel gereist, warst in den USA,  in Nigeria und danach in Namibia , wo unser Bruder lebte und arbeitete und dann immer wieder bei deinem Schulfreund in Canada, der deine späte glückliche Liebe wurde. Du hast mit ihm, für dein Alter ungewöhnlich, eine Fernbeziehung gelebt.

Danach musstest du den viel zu frühen Tod deines Sohnes, unseres Bruders, verkraften und bist daran fast zerbrochen. Trotz allem warst du auch in dieser Zeit für uns alle da. Die Familie und dein lieber Freundeskreis, den du sehr pflegtest, hat dich umsorgt und aufgefangen und dich, trotz aller Trauer, wieder zu einem lebensfrohen und sehr beliebten Menschen gemacht.

Bis kurz vor deinem Tod bist du immer aktiv gewesen. Tanzen, Reisen und mit Freunden wandern waren deine Passionen. Nach kurzer, sehr schwerer Krankheit gingst du knapp über 70 Jahre alt von uns und das riß ein riesengroßes Loch in unser Leben. Beerdigt wurdest du am Tag von 9/11 und ich dachte sofort an deine Worte: „Nie wieder Krieg“ und dass dich diese Grausamkeit schrecklich beunruhigt hätte.

Für uns warst du ein großes Vorbild. Nach der Lösung aus den Fesseln der gesellschaftlichen Konventionen hast du sehr selbstbestimmt und frei gelebt. Das war in deiner Generation nicht selbstverständlich. Wir haben dich alle dafür bewundert. Ich glaube, ich habe dir leider nicht oft genug „Danke“ und „ich hab dich lieb“gesagt.

Du hast jeden Raum
Mit Sonne geflutet
Hast jeden Verdruss
Ins Gegenteil verkehrt

Aus „der Weg“ von Herbert Grönemeyer

 

 

Geschichten aus der Vergangenheit

Urgroßmutter Anna mit Freundinnenlinks Urgroßmutter Anna und Besitzerin der Peterbaude mit Freundinnen

Dank Herrn Trittenheims virtuellen Lagerfeuer im Beitrag: „Einiges über die Magie der gesprochenen Sprache“, fielen mir wieder die Erzählungen meiner Großmutter von früheren Zeiten ein. Gebannt saß ich bei ihr und Bilder entfalteten sich vor meinen Augen, Düfte zogen an mir vorbei und ich glaubte die klirrende Kälte des Winters oder die Wärme der Bergsonne auf den Sommerwiesen zu fühlen. Meine Großmutter , sowie auch mein Vater, sind im Gebirge auf einer Baude (Berghotel) geboren und aufgewachsen. Meist von Gästen umgeben hatten sie dadurch viel Anregung und trotz der einsamen Lage in den Bergen viel Kontakt mit Menschen.

Großmama erzählte vom Fünf-Uhr-Tee, bei dem im Winter im blauen Zimmer die Gaslampen entzündet und leckerer Kuchen zum Tee oder Kaffee gereicht wurden. Auf der roten Veranda wurde abends Romme, Canasta und Bridge bei Zithermusik gespielt. Allabendlich gab es außerdem Tanz im Saal, es gab Theateraufführungen, Buchlesungen oder Gedichte wurden vorgetragen. Ihr älterer Bruder brachte dann ein Gramaphon mit und dann gab es auch Jazzmusik von Schellackplatten. Sie erzählte vom langen Winter, wo der Wind um die Bergkuppen heulte und die Latschenkiefern zu Eissäulen erstarrten. Wie beschwerlich ihr Weg auf Skiern zur Schule war oder wie sie auch oft mit dem Hörnerschlitten zu Tal fuhren. Von den ersten Frühlingstagen, als die Kühe Luftsprünge vor Freude machten, wenn sie wieder auf die Wiesen durften, von Wanderungen mit Freunden in der sommerlichen Wärme und dem Duft von frisch gemähtem Gras.

Schon früh liebte ich es in alten Fotoalben zu blättern und kleine, alte Erinnerungsstücke zu sammeln. Viel, viel später und durch einen Zufall entdeckte ich Online einen Prospekt von der Peterbaude (siehe Wikipedia) von 1929 in einem Antiquariat. Nur zwei Exemplare waren noch vorhanden. So bekam ich nun endlich die Räume zu sehen in denen die Geschichten meiner Großmutter stattgefunden haben und ich konnte die Neugier meiner Neffen und meiner Tochter stillen. Leider können ihre Großeltern nicht mehr so wundervoll von alten Zeiten erzählen. Meine Mutter ist verstorben und mein Vater lebt schon lange in den USA und ist leider an Demenz erkrankt. Aber die Geschichten sind nicht vergessen und die Bilder nicht verloren, auch wenn unsere Heimat nun ganz woanders ist.

Drei Brüder
Drei Brüder (mein Papa in der Mitte)

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Saal
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